Christa Scholz arbeitet als Krankenseelsorgerin im Hospiz Köpenick. Sie kommt aus dem Erzbistum Berlin, dass mit etwa 412.000 katholischen Christen Berlin, den zentralen und nördlichen Teil Brandenburgs und Vorpommerns und die Stadt Havelberg in Sachsen-Anhalt umfasst. Im Interview gibt sie Einblicke in ihr Leben, ihre Motivation und den Alltag mit Sterbenden.
Was bedeutet Seelsorge?
Drehen wir das Wort herum und trennen es: Sorge (für die) Seele. Das klingt gut! Bleibt die Frage, was für ein Organ ist die Seele? Ich zitiere aus dem Youcat, einem Jugendkatechismus: „Die Seele ist das, was jeden einzelnen Menschen zum Menschen macht: sein geistiges Lebensprinzip, sein Innerstes. Die Seele bewirkt, dass der materielle Körper ein lebendiger, menschlicher Leib wird. Durch seine Seele ist der Mensch das Wesen, das „Ich“ sagen kann und als unverwechselbares Individuum vor Gott steht.“ Der Kirchenlehrerin Teresa von Ávila (1515–1582) wird der schöne Satz zugeschrieben: „Tu deinem Leib etwas Gutes, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.“
Blicke ich auf beide Zitate, ergibt sich für meinen Dienst im Hospiz eine Deutung von Seelsorge: Wenn ich selbst nicht (mehr) in der Lage bin, mich darum zu kümmern, dass mein Körper ein lebendiger, menschlicher Leib sein kann, brauche ich jemanden, der sich um die Seele sorgt, damit beides wieder in den Einklang zurück finden kann. Ich brauche jemanden der erkennt, was hinter einem kleinen Symbol oder scheinbar nebensächlichen Worten gemeint sein könnte. Es ist mir wichtig, dem geschundenen Körper, dem kranken Menschen den Wert seines Lebenswerkes in Erinnerung zu rufen. Manchmal, wenn ein Gast erzählt, er hätte kein schönes oder kein besonderes Leben gehabt, gibt es beim gemeinsamen Hinsehen doch auch Sternstunden. Aber sie erscheinen ihm so klein, so selbstverständlich. Angestrahlt beginnen sie zu leuchten. Seelsorge ist die Sicht auf den ganzen Menschen, ist ganzheitlich.
Was hat Sie bewogen, Seelsorgerin zu werden.
In meinem „ersten Leben“ war ich Bibliothekarin in der wissenschaftlichen Bibliothek der Ingenieurhochschule Cottbus. Ich habe zu DDR-Zeiten in Leipzig, an der Deutschen Bücherei, Wissenschaftliches Bibliothekswesen studiert. Abgesehen davon, dass es ein sehr „trockenes Studium“ war, war es auch extrem „rot eingefärbt“. Das entsprach weder meinen Vorstellungen und schon gar nicht meiner religiösen Einstellung. Meine Eltern waren konsequente katholische Christen und haben meine Schwestern und mich in diesem Sinn erzogen. Für uns war es klar: keine Pioniere, keine FDJ, keine Jugendweihe. Da wir zu den dazu gehörenden Gruppenstunden keinen Zugang hatten, verbrachten wir unsere Freizeit in den Kinder- und Jugendgruppen der Kirchengemeinde, später in der Studentengemeinde.
Auf diesem Hintergrund wurde mir meine Bibliothek zu eng. Ich spürte, dass ich noch etwas anderes mit meinem Leben anfangen möchte und so begann ich, neben der Arbeit, mit einem theologischen Fernstudium. 1981 kündigte ich meine Anstellung in der Bibliothek und zog nach Berlin. Mein „zweites Leben“ begann. Ich wurde Mitarbeiterin in der Kirchengemeinde „St. Nikolaus“ und in der katholischen Studentengemeinde. Mit dem Abschluss der Studienkurse, Praktika und diverser Weiterbildungen war ich „meiner Bestimmung“ nahe: die Arbeit mit Kindern und Erwachsenen. 1983 führte mich mein Weg nach Berlin-Köpenick und ich arbeitete als Gemeindereferentin in der katholischen Kirchengemeinde St. Josef. Später erweiterter sich mein Wirkungsbereich auf Friedrichshagen, Schöneweide, Johannisthal, Adlershof, Altglienicke und Bohnsdorf. Meine Aufgaben waren bunt und vielfältig: Religionsunterricht, Sakramenten-Unterricht, Kinderfreizeiten, Krippenspiele, St. Martin, Sternsinger, Frauenseelsorge, Rentengruppen und -fahrten, Gottesdienste und ab 2004 auch schon Krankenseelsorge im DRK Krankenhaus.
Gab es in der Ausbildung/während des Studiums Zweifel, anderen Menschen oder Ihrer gesamten Seelsorgeaufgabe nicht gerecht werden zu können?
Was heißt „nicht gerecht werden zu können“? Ich glaube, kein Mensch kann das stemmen! Zeigen Sie mir die Person, die anderen Menschen und den gesamten Aufgaben immer gerecht werden kann. Ich bin eine Perfektionistin und das schließt schon einmal aus, dass ich nicht auch an mir zweifle.
Meine ärgsten Zweifel hatte ich in meiner Jugendzeit. Da habe ich Gott und die Welt angezweifelt und ich war ziemlich sauer, dass ich in eine christliche Familie hineingeboren worden war. Ich fand es u.a. ungerecht Gebote halten zu müssen, wo doch allen Menschen das ewige Leben bei Gott zugesagt ist. Zum Glück hatte ich zu dieser Zeit in meinem Gemeindepfarrer einen sehr guten Gesprächspartner und Seelsorger. Er hat meine Zweifel nicht klein geredet. Er hat mir Mut gemacht, ein zweifelnder Mensch zu bleiben. „Ja-Sager“ gäbe es schon ausreichend.
Während meiner Dienstzeit in den Gemeinden war es vorprogrammiert, nicht Jedem und Allem gerecht werden zu können. Bei einem Familiengottesdienst zum Beispiel werden Lieder gesungen, die die Kinder aus voller Kehle schmettern, mittelalterlichen Leuten dagegen sind sie zu schnell und zu laut … und überhaupt so viele Kinder sind so unruhig …
Während meiner Klinischen Seelsorgeausbildung in Hamburg hatte ich mein Praktikum in einem Hospiz. Von Montag bis Freitag begann mein Dienst mit der Dienstübergabe. Anschließend habe ich Gäste und Angehörige besucht. Zur Ausbildung gehörte, dass wir die Gespräche schriftlich festhalten mussten. Dadurch wurden die Begegnungen noch nachhaltiger. Als ich nach dem ersten Wochenende wieder in das Hospiz kam – waren vier Gäste gestorben!
Durch die in der Zwischenzeit für jeden Gast erstellte Verbatim* waren sie mir noch unglaublich präsent, ich konnte es nicht fassen und habe das auch in der Dienstübergabe geäußert. „Hallo, du bist hier im Hospiz!“ – war die Reaktion einer „gestandenen“ Krankenschwester. Ich glaube, sie konnte mein Unverständnis auf ihre Reaktion von meinem Gesicht lesen. Sie kam später zu mir und bestätigte, dass das kein gewöhnliches Wochenende war und zwei Gäste selbst für sie plötzlich verstorben seien.
Ich habe mir geschworen: Kein Abstumpfen, ich möchte emphatisch bleiben, kein Stein werden! Aber, ich habe mich auch gefragt: Wie viel Tot, wie viele Tote kann ich ertragen? Dank der Gruppen- und Einzelsupervisionen konnte ich, konnten wir unsere privaten und aktuellen Erfahrungen in‘s Wort bringen. Das war nicht nur für mich eine heilende Erfahrung.
* Ein Verbatim, welches immer auch eine subjektive Reflexion des Seelsorgenden darstellt, ist die möglichst wortgetreue Aufzeichnung eines Seelsorgegesprächs mit allen verbalen Gefühlsäußerungen, Zwischenfällen, Unterbrechungen und Pausen. Eine Einleitung macht den Kontext des Gesprächs deutlich (Anm. d. Redaktion).
Wie wird Ihre Arbeit im Hospiz aufgenommen?
Aus meiner Sicht bin ich angekommen und angenommen. Das eine oder andere Gespräch der Mitarbeitenden bestärkt mich in meiner Annahme. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich die Älteste in einem Team. Das musste ich erst einmal verinnerlichen. Damit kann ich aber gut leben. Für meine Aufgabe als Seelsorgerin im Hospiz empfinde ich „Lebenserfahrung“ segensreich. Im Hospiz gibt es Pflegestandards und vielleicht auch noch andere – Seelsorge gehört nicht unbedingt zum Standard. Obwohl ich vermute, dass nicht alle Mitarbeitenden Ahnung von meiner Profession hatten oder haben, bekomme ich wertvolle Hinweise und sie legen mir den einen oder anderen Gast ganz besonders an’s Herz. Auch wenn die Gespräche der Gäste mit mir vertraulich sind, ist es mir möglich eine Bitte oder Beobachtung an das Team zu geben. Hospizarbeit ist Teamarbeit aller Bereiche – Putzen, Küche, Sozialarbeit, Pflege, Seelsorge. Das ist eine wunderbare Erfahrung.
Die Gäste ziehen in ein unkonventionelles Haus. Viele haben keinen religiösen Hintergrund, und dennoch sagt Frau R.: „Ich habe mein Leben gelebt. Mein Mann wartet da oben!“ Ich verstehe meinen Dienst als offene, nicht vereinnahmende Seelsorge. Meine Frage ist: aus welchem Geist heraus, aus welcher Sicht der Welt heraus, gestalten die Menschen ihr Leben und bewältigen Krankheit und Sterben.
Frau L. zieht in unser Haus, Frau Lietz, die Sozialarbeiterin, zeigt ihr die Räumlichkeiten und dabei treffen wir uns. Ich werde vorgestellt und Frau L. sagt: „Sehr erfreut. Sie können mich ja besuchen, aber nur, wenn sie mich nicht bekehren wollen.“ Später stellt sich heraus, sie ist evangelische Christin, auf dem Papier, aber irgendwo auch noch tief in ihrem Herzen …
Ich besuche Frau S., evangelische Pastorentochter, sie ist tieftraurig, weil sie meint, in ihrer Krankheit Gott verloren zu haben. Mein Gottvertrauen sieht es anders: Er lässt sie nicht aus seinen Händen. Diese Zusage gab ihr Kraft und wir konnten gemeinsam das wunderschönes Lied von Paul Gerhard singen: „Geh aus mein Herz und suche Freud …“.
Das katholische Berlin ist nicht sehr groß und so ist es, dass ich die katholischen Gästen fast alle persönlich kannte beziehungsweise kenne – sie sind wo etwas wie „alte Bekannte“. Das ist/war für beide Seiten nicht die schlechteste Erfahrung. Wir haben Gottesdienste gefeiert und ich konnte ihnen die geistliche Stärkung der Kommunion bringen. Auch hier sage ich: Aus meiner Sicht bin ich angekommen und angenommen.
Viele Angehörige der Gäste sind in einem Ausnahmezustand. Manche können sich nicht damit abfinden, dass das Leben des Lieben zu Ende geht. Manche kümmern sich aufopferungsvoll, manche haben Berührungsängste. Sie sind sprachlos oder haben enormen Redebedarf. Mit vielen Angehörigen ergeben sich Gespräche am Bett des Gastes, manchmal im Foyer. Nicht selten verabreden wir uns, um ausführlich reden zu können. Auch hier erweist sich Teamarbeit als segensreich. Es sind die Sozialarbeiterinnen und die Pflegenden, die zuerst Kontakt mit den Angehörigen bekommen.
Kann man den Erfolg (falls es ihn gibt) von Seelsorge messen? Muss man das überhaupt?
Nachfolgenden Text habe ich vor kurzem für die Pfarrblätter unserer Kirchengemeinden geschrieben: Ich erlebe Menschen, die ihr Leben mit oder ohne Gott leben. Ich erlebe Menschen, die sehr traurig sind, nur noch kurze Zeit hier auf Erden zu sein. Ich erlebe Menschen, die meinen, in ihrer Krankheit Gott verloren zu haben. Ich erlebe Menschen, die unruhig sind, weil so manches ungeklärt bleiben muss. Ich erlebe Menschen, die einfach nur in Ruhe den letzten Weg gehen möchten. Ich erlebe Menschen, die voll Freude und Dankbarkeit auf ihr gelebtes Leben zurück blicken. Ich erlebe Menschen, die sich mit großem Engagement um die Gäste bemühen, getreu dem Leitsatz von Cicely Saunders, Ärztin aus England und Begründerin der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin: „Es geht nicht darum dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“
Das ist es doch! Sollten wir nicht immer so leben, dass wir am Ende eines jeden Tages ihn dankbar an Gott zurückgeben können? Die Zahl der Gemeindemitglieder ist bekannt; zählen kann man die Menschen, die am Sonntag in die Kirche kommen oder auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sich auf die Sakramente vorbereiten und nachzählen, wie viele davon weiterhin aktiv am Gemeindeleben teilhaben. Ist das Erfolg, den man messen kann? Ich habe bisher weder Metermaß noch Waage oder Maßkrug gefunden, mit denen man den Erfolg von Seelsorge messen kann.
Geschenkt bekomme ich: ein Lächeln, Tränen, Wut, ein Dankeschön, ein Lied, Schweigen, Hände die festhalten, eine Umarmung. Da halte ich es ganz mit Martin Buber: „Erfolg ist keiner der Namen Gottes.“
Sind Zuwendung, Zuspruch und Trost allein Aufgabe der Seelsorger, oder können wir alle Seelsorge leisten?
Natürlich kann jeder Mensch Trösten und Zuwendung schenken und beratend zur Seite stehen. Für mich bedeutet Seelsorge aus der gläubigen Lebenseinstellung die in jedem Menschen vorhandene Beziehung zu Gott anzusprechen. Da aus der christlichen Sicht jeder Mensch in einer Beziehung zu Gott steht, bedeutet Seelsorge für mich auch diese Seite im Menschen zum Klingen zu bringen. Natürlich sollte es so sein, ohne dem anderen etwas einzureden oder ihn in seiner philosophischen Orientierung zu beeinflussen.
Hat sich die Methode der Sorge um den Menschen für Sie im Verlaufe Ihres Berufslebens verändert? Wenn ja, wie?
Als Gemeindereferentin ist man Basisarbeiterin. Ich sage immer, wenn wir nicht gute Arbeit für und mit den Menschen aller Altersgruppen in den Gemeinden leisten würden, gäbe es keine Bischöfe mehr. Was bräuchte man einen Hirten ohne Herde. In den Gemeinden war ich Motor, Ideengeberin, Bremse, Prellbock, Trösterin, Reiseleiterin, Seelsorgerin … Vieles gleichzeitig und auch nicht gerade langsam. 2013 habe ich nach über 30 Jahren Gemeindearbeit eine neue Aufgabe übernommen – Krankenseelsorge im Virchowklinikum Wedding und im Auguste-Victoria-Krankenhaus Schöneberg. Frau Hömberg, Referentin für Krankenhauspastoral im Erzbischöflichen Ordinariat, ermahnte mich immer: „ Christa, komm vom Tisch herunter! Du musst viel ruhiger werden!“ Ich arbeite daran.
Während der Krankenseelsorgeausbildung sollten wir aus Ton ein Symbol von unserem Verständnis von der (damals) zukünftigen Tätigkeit arbeiten – ich formte ein Herz mit Ohren. Meine Inspiration war ein Lied, das ich sehr gern mit den Kindern der Gemeinde gesungen hatte und meinem Verständnis von Krankenseelsorge.
Im Hospiz habe ich eine ganz neue Erfahrung machen dürfen. Die Vorbereitung der ersten Erinnerungsfeier lag in meiner Verantwortung. Ich bewegte mich auf völlig neuem Terrain – eine Feier in der Intension der Erinnerung, aber kein Gottesdienst. Das Hospiz ist nicht konfessionell ausgerichtet, ich bin aber als katholische Seelsorgerin hier. Wir gedachten der Verstorbenen, die Nichtchristen und Christen waren und so war es mir ein Anliegen, auch Elemente eines Gottesdienstes in die Feier zu nehmen. Nach langen Überlegungen, dem Suchen nach Texten, dem Schreiben der Ansprache und der Fürbitten, das Vater unser, ein Segenstext und Klarinettenmusik bildeten den Rahmen für das Entzünden der Kerzen für die Verstorbenen. Die vorbereiteten Texte und die Kerzenzeremonie wurde aus dem Team heraus mit getragen und so wurde unsere erste Erinnerungsfeier sehr feierlich und würdig.
Wird Ihr Seelsorgeangebot auch abgelehnt? Zum Beispiel, weil man glaubt, Mitglied einer Kirche oder Religionsgemeinschaft sein zu müssen?
Es ist, wie Sie sagen, ein Angebot und keine Verpflichtung. Aber ich habe es erlebt und ich musste lernen, dass es nichts mit meiner Person, sondern mit meiner Tätigkeit zu tun hat. Aber es war nicht so, weil man glaubte, Mitglied einer Kirche oder Religionsgemeinschaft sein zu müssen, sondern weil man sich erinnerte, einmal dazu gehört zu haben. Verletzungen, enttäuschte Erwartungen, veränderte Lebenssituationen hatten einen Rückzug oder Austritt zur Folge und so löste der Besuch Verwunderung aus.
Im Hospiz ist mir das bisher zweimal passiert: Beim ersten Mal wurde mir bei der Dienstübergabe mitgeteilt: „Frau K. wünscht keine Seelsorge.“ Beim zweiten Mal stand es bei dem Gast an der Tafel im Dienstraum. Dann ist es so – dachte ich mir. Ich gehe wie immer durch die Zimmer, spreche mit den Gästen … komme in das Foyer, am Esstisch sitzen für mich neue Gäste und trinken Kaffee. Ich setze mich dazu, stelle mich vor, wir kommen in’s Gespräch – und mir wird klar, das ist Frau K., die kein Gespräch mit „der Seelsorge“ wünscht. Zu spät, ich habe sie bis in den Tod begleiten dürfen, aus der ersten Begegnung heraus ergab sich eine Begleitung auf der letzten Wegstrecke.
Welche Seelsorge erfahren Seelsorger im Allgemeinen? Woher nehmen Sie persönlich Kraft und Motivation für Ihren Alltag?
Im Allgemeinen gibt es die Möglichkeit der Supervision und Exerzitien. Es gibt Tagungen und Weiterbildungen, speziell für die Krankenseelsorge, aber auch solche für alle pastoralen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Erzbistum Berlin. Meine persönliche Kraft und Motivation entnehme ich der Freude am Leben, am Feste feiern und an schönen Dingen, am Töpfern, dem regelmäßigen Mitfeiern von Gottesdienstes, dem täglichen Lesen von geistigen Impulsen (seien sie aus der Bibel oder anderen Schriften) und nicht zu Letzt aus der Freude am Jahreskreis im Garten, inclusive der notwendigen Arbeiten oder einer Tasse Kaffee und einem Buch an einem der möglichen Ruheplätze.
Bei welchen Gelegenheiten reden Sie sich etwas von der Seele?
Ich habe eine liebe Familie, zu der ein Pfarrer gehört und einen langjährigen Freundeskreis zu dem zwei Psychologinnen gehören – da ergeben sich, bei Bedarf, Gelegenheiten zum Reden. Das, worüber ich nicht reden möchte, vergrabe ich im Herzen und im Garten. Und dann habe ich ja noch meine Kladden, aus denen nie ein Buch werden wird.
Was bringt Sie persönlich zum Verzweifeln?
Unachtsamkeit, Unordnung, mangelndes Engagement, Gleichgültigkeit, Unzufriedenheit, Ungerechtigkeit, Pessimismus.
Können Sie sich noch an besonders intensive Gespräche erinnern?
Natürlich erinnere ich mich an viele intensive Gespräche, aber an dieses eine ganz besonders: Am 23. Mai war mein erster Arbeitstag im Hospiz. Einen Tag später bat mich Schwester Ute, M.H. zu besuchen, sie bräuchte unbedingt „Gespräche mit der Seelsorge“ und sie hätte den Wunsch mit meiner Hilfe Briefe an ihre beiden Töchter zu schreiben. In den nächsten Tagen habe ich sehr viel zugehört und wir hatten intensive Gespräche, aber für die Briefe war für M. noch nicht bereit und auch manchen Tag zu schwach. M. hatte noch so viel Lust auf Leben! Mir dagegen wurde bange, erlebte ich doch im Hospiz, wie schnell die Kraft schwinden kann. Wir verabredeten uns für den 7. Juni, einen Tag vor ihrem 55. Geburtstag. Ich brachte verschiedene Briefpapiere und verschieden farbige Stiften mit. Nachdem sie die Auswahl getroffen hatte diktierte sie den Anfang, dann wurde es eher ein Erzählen. Daraus formulierte ich Sätze – sie fand sie gut oder sagte: „Nee, klingt nicht nach mir.“ Ich formulierte neu: „Besser hätte ich es nicht sagen können.“ Danke M.!
Es war für uns beide ein unglaublich anstrengendes und berührendes Miteinander. Wir konnten für jede Tochter einen Brief geschrieben. Sie waren nicht richtig fertig, aber ich dachte: wenn ihre Kraft reicht, würden wir weiter schreiben, wenn nicht – das Wichtigste hatte sie ihren Töchtern gesagt.
Als ich am 13. Juni wieder zu ihr komme ist sie sehr schwach. Sie mochte so sehr Blumen und wohlriechende Düfte und so hatte ich ihr, nachträglich zu ihrem Geburtstag, einen schönen blühenden und duftenden Kräuterstrauß aus meinem Garten mitgebracht. M. freute sich und schnupperte daran und ich musste ihn auf den Nachttisch stellen, damit sie der Duft erreichte. Am nächsten Tag war sie kaum noch ansprechbar. An weiter Schreiben war nicht mehr zu denken!
Am 15. Juni ist M.H. eingeschlafen. Als die Töchter zur Verabschiedung kamen, haben wir geweint und gelacht, geschwiegen und geredet. Ich habe ihnen die Briefe überreicht und erzählt, wie es dazu kam. Was mich persönlich noch immer sehr anrührt ist, dass es mir möglich war, dem Partner der einen Tochter auf eine für ihn wichtige Frage, die er M. nicht mehr stellen konnte, eine Antwort geben zu können. Diese Antwort wurde aus dem Gehörten möglich. Ich war traurig und doch so froh, für ihre Töchter, dass M.H. zur rechten Zeit noch so viel Kraft aufbringen konnte.
Hatten Sie steile Wegstrecken oder erhebliche Veränderungen in Ihrem Leben zu bewältigen?
Das ist jetzt sehr persönlich, aber auch kein Geheimnis. Jedenfalls habe ich keines daraus gemacht. Die letzte „steile Wegstrecke“ im reinsten Sinne des Wortes, ist noch gar nicht so lange her und ich habe noch immer daran zu knabbern. Ich erwähnte schon, dass mir gesagt wurde, ich müsse viel ruhiger werden. Ich habe zwei Schwestern, seit Oktober 2015 heißt meine dritte Schwester „Geduld“. In dem Jahr hatte ich eine ganz profane Operation, mir wurde ein künstliches Hüftgelenk eingebaut. Als ich nach der Narkose meine Zehen bewegen wollte, bewegte sich gar nichts und ich fühlte mein linken Beines nicht, es war von oben bis zum kleinsten Zeh gelähmt. Nach ein paar Tagen stellte sich heraus, dass bei der OP der Ischias beschädigt worden war. Von heute auf morgen war ich aus der Kurve geflogen. Kein Arzt oder Physiotherapeut konnte mir sagen, wie lange die Heilung dauern würde und ob jemals überhaupt. Dann bekam ich in das Bein eine Thrombose, die ich nicht bemerkte, das Bein fühlte nichts. Ich hatte keine Vorstellung von der Tragweite!
Ich war wild entschlossen mich zurück in das Leben zu kämpfen, von Anfang an. Mit sehr viel Hilfe, Reha und Behandlungen bis heute, Gartenarbeit mit Rollator, Lauftraining und unendlich viel Geduld konnte ich nach 18 Monaten Arbeitsunfähigkeit meine Tätigkeit wieder aufnehmen, jedoch nicht in den gewohnten Kliniken, da ich den Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht hätte stemmen können. Mein neuer Einsatzort musste für mich leichter erreichbar werden. Mein Dienstgeber ließ sich darauf ein.
„Der liebe Gott tut nichts als Fügen …“ Prof. Dr. med. Stefan Kahl, Hospizinitiator, hatte im Erzbischöflichen Ordinariat nach Seelsorge für das kurz vor der Eröffnung stehende Hospiz angefragt. Ich habe die halbe Stelle im Hospiz bekommen und mit der anderen halben Stelle arbeite ich im Pastoralen Raum in Rüdersdorf.
2018 wird sich für mich noch einmal meine berufliche Situation verändern– ich werde weiterhin mit einer halben Stelle im Hospiz als Seelsorgerin tätig sein und mit der anderen halben Stelle im DRK-Krankenhaus Köpenick. Manchmal mag ich es gar nicht glauben: aus meinem Unheil ist am Ende Heil geworden! Ich bin sehr dankbar und glücklich.
Wenn Sie ein Buch schreiben würden – was wäre das Thema?
Ich habe in Gedanken viele Bücher geschrieben, sogar verschiedene Kladden angelegt. Bei der Sintflut an Veröffentlichungen wartet kein Mensch auf mein Buch. So wird es bei den Kladden bleiben. In der Bibel, im Buch Kohelet steht: „Alle Dinge sind rastlos tätig, kein Mensch kann alles ausdrücken, nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, nie wird ein Ohr vom Hören voll. Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne …“.
Braucht unsere Gesellschaft – brauchen wir alle – mehr Seelsorge?
Ja, unbedingt! Haben Sie nicht auch das Gefühl: Die Zeit ist so schnelllebig, sinnfrei und oberflächlich, die Seele kommt gar nicht hinterher? In den Medien wird über den Werteverfall diskutiert und geschrieben. Welche Werte verfallen, wem sind sie bekannt? Viele Menschen sind ausgebrannt und müde, fühlen sich als Hamster im Laufrad. Ja, unbedingt müssen wir Menschen gegenseitig auf uns achten und trösten und helfen!
Manchmal staune ich, wie hilfsbereit Menschen sind, wenn es um Menschen am anderen Ende der Welt geht. Stehen sie dann vor der Tür oder sind Nachbarn in Not sieht es oft ganz anders aus. Es wäre so einfach, würden wir alle das Hauptgebot, das Jesus benannt hat, kennen und uns daran halten: Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst!
Papst Franziskus macht kein Geheimnis daraus: Das Thema der Barmherzigkeit liegt ihm am Herzen. Das von ihm ausgerufene außerordentliche Heilige Jahr 2016 wollte die Werke der Barmherzigkeit wieder stärker in das Bewusstsein rücken und ermutigen, sie bewusster zum Inhalt des christlichen Lebens zu machen. In einer modernen Übersetzung heißen sie: … du gehörst dazu … ich besuche dich … ich höre dir zu … ich rede gut über dich … ich gehe ein Stück mit dir … ich teile mit dir …
Für Alle, die nichts mit der Bibel oder dem christlichen Glauben anfangen können, kann es einfach heißen: Wenn wir den Menschen mit all seinen Stärken und Schwächen in den Mittelpunkt rücken würden und nicht die Herkunft, das Bankkonto, die gesellschaftliche Position, die Religion oder die Hautfarbe, wäre es ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist ja nicht so, dass es nichts gibt, nur nicht genug. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, werden das Angesicht der Erde verändern“. Seien wir viele kleine Leute …
Ein Teil des Interviews ist im Magazin Z (Nr. 3) abgedruckt.