Als meine Mutter starb, blieben alle Uhren stehen
„Sophie, die Zopfhalter“, rief Mutter regelmäßig, wenn ich am frühen Morgen die Wohnung in Richtung Schule verließ. Von langen Haaren träumt wohl jedes Mädchen, zumindest irgendwann in der Kindheit. Sie zu bändigen, war eine andere Sache. Ständig hingen sie im Marmeladenglas oder wie ein Vorhang im Gesicht. Während des Sportunterrichts war das Theater am eindrucksvollsten – die Löwenmähne führte dann ein fliegendes Eigenleben und war dem restlichen Teil des Kopfes immer voraus.
Deshalb trug ich oft einen Zopf. Von Oma geflochten oder von Papa hingebogen. Wenn meine Mutter hingegen den Zopf band, hielt er nicht nur den ganzen Tag, sondern sah auch super aus. Sie probierte oft etwas aus – Strähne hier, Knoten da, mittig, seitwärts, mit und ohne Clips. Als Kind kam ich mir vor wie ein Star, weil die Zopfangelegenheit mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nahm. Später machte uns Mutter einen Tee dazu, wir erzählten miteinander, schütteten uns über Papas Ungeschicklichkeiten aus, während sie meine Haare in die Schranken wies.
An diese Momente erinnere ich mich genau und ich werde sie vermissen. Meine Mutter ist tot. Gestorben an Brustkrebs, wobei man ihr sagte, dass im ganzen Körper Metastasen verstreut wären. Als sie die Diagnose bekam, glaubte sie noch an Heilung. Soll ja immer wieder vorkommen und Boulevard-Heftchen berichten von Promifrauen, die nach Brustkrebs wieder genesen sind. Sowas ähnliches ging ihr durch den Kopf, als sie uns am Abendbrotstisch von ihrer Diagnose erzählte.
Die Tage und Wochen danach waren ein Alptraum, wir haben kaum geschlafen, mein Vater nahm Urlaub, meine beiden Brüder klebten an Mutter wie Kletten an Wolle und überhaupt haben wir uns ständig an den Händen gehalten oder umarmt. Vielleicht wäre es übertrieben, sowas auch ohne Krebsdiagnose öfter zu machen. Aber ich bin sicher, dass würde die Menschen heilen. Von ihren Beziehungskrisen, vom Alleinsein, von diffusen Ängsten und Nöten. Und es würde ihnen Wärme schenken. Eine Umarmung ersetzt ein dampfendes Vollbad oder einen Selbstfindungskurs, je nachdem.
Mutter kam ins Krankenhaus, immer wieder. Mein Vater und ich organisierten unser Leben um, meinen Brüdern – uns allen – ging es nicht gut. Meine Mutter hingegen schien vor Energie zu sprühen, erzählte von immer neuen Medikamenten, die Heilung verhießen. Sie las fiel, schrieb ein Tagebuch und hielt Kontakt mit Leuten, die wir nicht kannten. Allerdings ging es ihr doch immer schlechter und irgendwann nahm ein Arzt meinen Vater zur Seite, um mit ihm „ohne die Kinder“ zu reden.
„Es geht zu Ende und ich kann mir das nicht vorstellen“, sagte meine Mutter bei einem Besuch im Krankenhaus im Frühjahr. Sie sah schlecht aus, eingefallen, grau, zum Erbarmen. Und doch, offenbar mit letzter Kraft, band sie mir immer wieder einen Zopf. „Kind, so sieht das viel besser aus“, war sie überzeugt und machte Fotos mit ihrem Handy, um jedes einzelne Bild in der Nacht lange anzuschauen. Meine Brüder lagen während der Besuche auf ihr und sie ertrug es mit einem Lächeln, obwohl sie scheinbar zu zerbrechen drohte. Wir haben in dieser Zeit alles gemeinsam gemacht, auch in einem Zimmer geschlafen. Wir haben es nicht ausgehalten, in unsere Zimmer zu gehen, um dort allein die Nächte zu verbringen.
Während andere Leute ihre Kinder immer ermahnten, nicht so viel am Smartphone zu fummeln, gehörte das für uns wie angewachsen dazu. Wir waren ständig rufbereit, meine Brüder legten das Ding gar nicht mehr aus der Hand. Um ja keinen Anruf, keine SMS oder eine Nachricht von Mutter über den Familien-Chat zu verpassen. Sie war via eingeschalteter Kamera überall mit dabei. Auch als ich mir ein Kleid für den Abi-Ball kaufte. Im Laden dachten die Leute, ich hätte einen an der Klatsche, weil sie nur sahen, wie ich mit dem Handy sprach und es überall hochhielt oder herumschwenkte.
Vier Tage nach der Feier starb meine Mutter. Sie bestand nur noch aus Haut und Knochen. Unsere Familie „wanderte durch das finsterste Tal, das man sich vorstellen kann“, sagte meine Tante und eine Welt schien zu zerbrechen. Wir haben zwar gewusst, dass dieser Tag kommt. Aber mit welcher Wucht, war nicht vorauszusehen. Als ob jemand Teer in die Uhren schüttete – die Zeit blieb stehen.
Später – nach vielen Monaten der endlosen Schwere, als alle Farben aus unserem Leben wichen und jeder Tag wie Blei im Magen lag, fand ich unsere Zettelbox, die meine Mutter immer mit Nachrichten für mich bestückte. „Schuhe putzen (auch die Sohle)“ stand darauf. Oder „Äpfel holen“, „Blumen gießen“ und „Laut vorlesen“. Dazwischen lagen Zopfgummis und ein größeres Stück Papier, auf dem geschrieben stand: „Ich liebe Dich, mein Zopf, bis heute Abend. Schöne Grüße, der Zopfhalter“.
Kann sein, dass Erinnerungen blasser werden, vielleicht nach vielen Jahren. Aber immer noch kann ich spüren, wie mir meine Mutter den allmorgendlichen Zopf bindet. Mit ihren duftenden Händen und fließenden Bewegungen. Gerne würde ich ihr noch einmal sagen: „Ich liebe Dich auch, schöne Grüße von Deinem Zopf“. Aber so richtig würde das nicht funktionieren, meine Haare sind jetzt kurz.
Aufgeschrieben von Sophie Malzahn, Berlin