Warum ein einziges Gespräch für ein Leben reicht. Warum
es elektrisieren kann. Und es
dennoch nicht genug ist. Uwe Baumann hat einen Tag im
Hospiz verbracht.
Still steht der Hospiz-Bau in der Morgensonne, die in Berlin oft ihr Bestes gibt. Mit der Fotokamera drehe ich eine Runde ums Haus, für einen Fotografen ist „gutes“ Licht Freude und
Herausforderung zugleich. Mir fällt ein, was Cicely Saunders in ihrem fiktiven Interview in diesem Heft sagte: Sie würde sich wünschen, Licht ins Dunkel unserer Vorurteile und diffusen Kenntnisse über das Sterben bringen zu können. Viel mehr Licht.
Tränen gibt es reichlich
Einen kleinen Teil des Hospiz-Teams kenne ich flüchtig, alles fröhliche Frauen und ein Mann, die keinen Zweifel daran lassen, dass sie mächtig viel Ahnung haben von dem, was sie täglich leisten. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie können ihre Arbeitszeit nur vage planen – der sterbende Mensch lässt sich kaum berechnen. Zufall und viele unvorhersehbare Faktoren haben hier die Oberhand. Das dennoch alles „wie am Schnürchen“ läuft, ist auf die Erfahrung der einzelnen Pflegenden zurückzuführen. Es fällt auf, dass nicht nur die Gäste umsorgt werden, sondern auch die Angehörigen und Besucher. Ein Hausarzt konsultiert seinen Patienten, an diesem Tag wird auch ein Gast neu aufgenommen. Irgendwann kreuzen zwei Familien auf, einen Jungen im Schlepptau, vielleicht im Alter meiner kleinen Tochter. Der Junge steuert sein Spielzeugauto vor dem Hospiz hin und her und zeigt ein paar Vorübergehenden seine Fahrkünste. Gut so, denke ich, das Hospiz ist kein geheimnisvoller Ort der Tränen, sondern eine Herberge für die Lebenden und Sterbenden. Wobei Tränen fließen, reichlich sogar. Die meisten der Gäste hängen am Leben, viele hadern mit dem Schicksal. Das würde ich auch, ganz gewiss. Und so wollen einige Frauen und Männer nicht über ihre Krankheit und das Sterben reden. Heute jedenfalls nicht.
Das Paradies auf Erden
Mit zwei Frauen komme ich ins Gespräch. Beide haben Krebs. Warm heute – Ja, ganz schön – Gehen wir für einen Moment vor die Tür? – Ja, machen wir, ist ja sonst nichts los – Na, dann zack, zack. Mit Rollator und Rollstuhl geht es nach draußen. Wie sie von ihrer Krankheit erfahren haben, wollte ich wissen. Und was sie einst für Berufe hatten. Beide lächeln, wenn sie erzählen. Überhaupt sehe ich viele Menschen lächeln – Gäste, Angehörige. Ein Pärchen verirrt sich zufällig ins Hospiz, in der Annahme, dies sei so eine Art Caféteria. Als sie ihren Irrtum erkennen, verlassen sie fluchtartig das Haus. „Da hamse gemerkt, dass se noch nich dran sind“, wirft eine meiner Begleiterinnen ein. Von der anderen erfahre ich, dass sie früher in einer Druckerei gearbeitet hat. Also in so einem Riesending mit lauten Maschinen, tonnenschweren Papierstapeln und ewig trockener Luft. Für mich ist eine Druckerei, zumal eine alte, das Paradies auf Erden. Ich mag den Geruch von Farbe und Papier. Klingt vielleicht schräg, ist aber so. Jedenfalls haben wir ein beinahe unerschöpfliches, elektrisierendes und spannendes Gesprächsthema gefunden.
Den Humor nicht verlieren
Irgendwann erfahre ich mehr. Vom Garten, den eine der beiden mit Liebe gestaltete und pflegte, von drei Hunden, einer davon ein Husky. Das würde auch meiner Tochter gefallen, dachte ich. Sie hat ein ausgesprochenes Faible für Hunde und Wölfe, wobei es letztere nicht zwingend zum Liebling auf der Wohnzimmercouch bringen werden. Wir lachen zusammen darüber. Ich glaube, es ist ein befreiendes Lachen, wenigstens für den einen, kleinen Moment. Ich will ehrlich sein – das Sterben steht immer irgendwie als Gespinst im Weg. Stumm, nicht aufdringlich. Aber spürbar. Den ganzen Tag lang.
„Wir verlieren unseren Humor aber nicht“, sind beide Frauen überzeugt. Als sie sich nach dem Mittagessen verabschieden, wünschen sie sich, falls sie einander nicht wiedersehen, eine gute Reise. Das klingt nicht etwa bitter, sondern wie ein aufrichtiger Wunsch unter Freundinnen. Ich habe einen Kloß im Hals und keinen Appetit. Auch nicht auf die selbstgebackenen Pfannkuchen aus der Hospiz-Küche.
Das Boot entfernt sich
Irgendwann taucht Franzi auf, die eigentlich Franziska heißt. Sie hat ein Praktikum im Hospiz absolviert und besucht jetzt eine der beiden Frauen. Einfach so. Gemeinsam geht es in den nahen Park. Mit dem Rollstuhl, schön sachte und immer in Deckung vor der flirrenden Sonne. An Franzis rechtem Arm hat sich ein Tattookünstler austoben dürfen. Und zwar richtig. Das schaut gut aus und wird doch nicht jedermanns Geschmack sein. Die Zeit vergeht mit Gesprächen und Flachsereien, wir erzählen uns gegenseitig weltbewegende und lapidare Geschichten. Wie einfach das ist – fremde Menschen reden miteinander. Das sollten wir viel öfter im Blick haben, nicht erst im Angesicht des Todes. Irgendwann kehren wir die paar Schritte zum Hospiz zurück. Die beiden Frauen begrüßen sich erneut, allerdings mit einem charmanten Seitenhieb: „Nee, ich bin noch nicht weg, wird wohl noch für einen Kaffee reichen.“
Anderen sieht man das nahe Sterben an. Die körperlichen Kräfte sind erschöpft, der Blick nicht mehr klar. Es ist, als würde man ein Schiffstau vom Kai lösen. Noch ist das Ufer zu sehen, aber das Boot entfernt sich unaufhörlich. So jedenfalls hat der Songwrither Leonard Cohen beschrieben, wie er sich den Übergang vom Leben zum Tod vorstellt. Kein schlechter Gedanke, aber jeder sieht und erlebt das anders.
Das Hospiz-Team
Während ich meine Eindrücke sammle, arbeitet das Hospiz-Team wie ein Schweizer Uhrwerk. Wie viele gelaufene Kilometer pro Tag zusammenkommen? Wie viele Wünsche erfüllt werden? Wie viele Fragen beantwortet, Hände gestreichelt, tröstende Worte gesprochen? Keine Ahnung, sicher ist so eine statistische Erhebung auch nicht wichtig. Niemand macht viel Wind um die Dinge, die still und fast im Nebenbei erledigt werden. Wer jedoch annimmt, im Hospiz sei es fortwährend gespenstisch leise, irrt. Vor allem sind es die Gäste, die „was raushauen“ – einen Witz, eine flapsige Bemerkung oder „einen Schwank aus der Jugendzeit“, wie es ein älterer Herr formulierte.
Zur Dienstübergabe herrscht Konzentration, die verantwortlichen Pflegerinnen und Pfleger informieren sich umfassend über jeden Gast. Ich verstehe kaum ein Drittel der medizinischen Fachbegriffe, aber es wird sonnenklar, dass ein Hospiz nichts für Weicheier ist. Hier findet das Leben sein Ende, in der kurzen Zeit seit der Eröffnung im Mai über sechzig Mal. Im Erinnerungsbuch wird der Verstorbenen gedacht. Jeder kann darin lesen, etwas hinzufügen oder einkleben. Zu allen Namen schreibt das Team einen Vers aus dem Zitatenschatz von Dichtern, Musikern oder Philosophen. Auf diese Weise können jene, die zwischen den Seiten blättern, ihren eigenen Gedanken folgen.
Sorge um jeden Menschen
Christa Scholz ist katholische Krankenhausseelsorgerin aus dem Erzbistum Berlin. Dass sie sich ausnahmslos um jeden Gast im Hospiz kümmert, ist nicht selbstverständlich. Denn gelegentlich folgen auch Seelsorger ihrem Auftrag entweder sporadisch oder streng nach Konfessionen getrennt. Frau Scholz hingegen ist nicht nur fachlich auf der Höhe – Seelsorge ist ein sensibler Bereich der geistlichen Begleitung eines Menschen – sie wurde rasch unverzichtbarer Teil des Hospiz-Teams. Sie ist jederzeit ansprechbar, für Gäste, Pflegende und Angehörige gleichermaßen. Ich bin froh und dankbar, dass sie sich gelegentlich zu mir gesellt, Gespräche mit Gästen beginnt, achtsam einhakt, das Schweigen bricht und dennoch die Stille nicht zerstört. Wer Rat und Trost sucht, findet beides bei ihr. Cura animarum – die Sorge um die Seele – ist am Lebensende von besonderer Bedeutung. Sterbende können Gedanken ordnen, lange Ungesagtes aussprechen, sich versöhnen, ihren letzten Willen be- kunden und schließlich Abschied nehmen. Seelsorger helfen, die Flut der Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen in Bahnen zu lenken, sie begleiten praktisch die letzten Tage eines Menschen wie ein guter Freund. Ich finde das eine der schönsten Erfindungen, die es gibt. Nicht allein sein zu müssen, wenn es ans Sterben geht.
Ich darf gehen
Am Ende des Tages beschleicht mich ein Gedanke: Ich kann gehen, muss nicht im Hospiz bleiben. Wie befreiend das ist. Vielleicht weiß man Leben erst dann richtig zu schätzen, wenn man mit dem Ende konfrontiert ist. Und nicht verdrängt, dass für jeden von uns eines Tages „das Licht ausgeht“, wie der Volksmund sagt. Ob das Licht tatsächlich erlischt, wissen wir nicht, niemand kann von der anderen Seite, dem Tod, berichten.
Im Hospiz gibt es Abendbrot. Wem das Laufen oder Rollstuhlfahren noch möglich ist, setzt sich um den großen Tisch neben dem Atrium. Ich sehe die beiden Damen wieder, extra für sie gibt es Steinpilzsuppe. Das Hospiz-Team erfüllt die Wünsche der Gäste fast im Handumdrehen und das erinnert mich an ein Hotel. Besucher heißen dort auch Gäste. Vielleicht ist die Herberge am Ende des Lebens so eine Art Zwischenstation, ein vorübergehendes Dach über dem Kopf für alles, was danach kommt. Als ich das Hospiz verlasse, wünsche ich allen Gästen eine gute Reise. Und ich bin froh, dass ich lebe.