Marie

Marie sieht ihren Opa noch vor sich, wie er in der Stube sitzt.

In der Stube der Oma hängt noch heute das gerahmte Stickbild mit dem Spruch „Wenn ich gewusst hätte, wie schön es ist, Enkelkinder zu haben, hätte ich sie zuerst bekommen.“ Maries Opa hat es mal zum Geburtstag geschenkt bekommen. „Und es passte genau zu ihm“, sagt die 21-jährige Marie. Ihr Opa hatte zehn Enkelkinder, fünf davon lebten auf dem Bauernhof der Familie mit im selben Haus. Marie ist die älteste von ihnen. Ihren Opa hat sie jeden Tag gesehen. Er hat ihr vorgelesen, vor allem Wilhelm Busch, das war sein Lieblingsautor. Sie haben zusammen „Mensch ärgere dich“ nicht gespielt und er hat sie, als sie klein war, oft vom Kindergarten abgeholt. Immer hat er sich für sie interessiert. Wollte wissen, wie es ihr geht und ob sie zufrieden ist mit ihrem Leben. Schulnoten waren ihm egal.

 

Für Opa war alles wichtig

Vor zwei Jahren ist er mit 88 Jahren gestorben. Er war nicht krank, sondern ist einfach nur immer schwächer geworden. Bis zuletzt ist er trotzdem jeden Morgen aufgestanden, hat sich beim Anziehen helfen lassen, hat am Tisch in der Küche gegessen. Die letzten Monate pflegte ihn die Familie und ein ambulanter Pflegedienst kam vorbei. „Sich um Opa zu kümmern war eine tolle Sache, weil er so fröhlich war“, sagt Marie. Ihr Opa hat sogar die Pflegeschwestern zum Lachen gebracht mit seinen charmanten Sprüchen. Er zitierte auch gern aus Büchern, die er gelesen hatte. Und als Marie einmal ein Referat über die Varusschlacht halten sollte und mit dem Thema nichts anfangen konnte, da hat sie ihren Opa gefragt. „Der hat weit ausgeholt, mir noch die historischen Zusammenhänge der Jahrhunderte vorher erklärt. Und als ich sagte ,Komm doch mal zum Punkt‘, da meinte er, das alles wichtig sei.“ Bei allen Familienfeiern hielt ihr Opa eine Rede. Immer im Stehen. Nur die letzte, kurz vor seinem Tod, musste er im Sitzen halten.
„Er war geistig voll auf der Höhe, hat sich für alles interessiert.“ Nur die letzten beiden Tage seines Lebens stand er morgens nicht auf. Er konnte nicht mehr sprechen, hat Familienmitglieder nicht erkannt, starrte ins Leere. Marie und ihre Familie wussten, dass es zu Ende ging. „Für sein Sterben war es, auch wenn es komisch klingt, der allerbeste Zeitpunkt.“ Denn es war vier Tage nach Weihnachten, die Familie war bis auf einen Sohn, der im Ausland war, zusammengekommen. Die letzten Stunden standen sie um sein Bett herum versammelt. 17 Menschen, seine engste Familie. Einer hielt immer seine Hand. Maries damals 14-jähriger Bruder lag neben seinem Opa und weinte. „Es war schrecklich, aber auch schön. Wir wussten, er hat sich gewünscht, dass wir alle da sind“, sagt Marie.

 

Es wurde gelacht und geweint

Nachdem ihr Opa seinen letzten Atemzug getan hatte und kein Puls mehr zu spüren war, blieben sie noch eine Weile im Zimmer. Es tat gut, zusammenzustehen. Einer holte ein Buch von Wilhelm Busch hervor und las daraus vor. Während sein Sohn und eine Tochter dem Verstorbenen einen Anzug anzogen – so wie er es sich für den Tod gewünscht hatte, denn er wollte anständig aussehen – ging der Rest der Familie ins Nebenzimmer. Eine Flasche Sekt, die noch von Weihnachten übrig geblieben war, wurde geöffnet und auf Opa angestoßen. Es wurden Geschichten von ihm erzählt, seine Sprüche zitiert, es wurde gelacht und geweint.
„Er war ein besonderer Mensch“, sagt Marie. Auch wenn sie gar nicht so genau sagen kann, warum. Zu ihrem anderen Großvater, der ein paar Jahre zuvor gestorben war, hatte sie nicht so ein enges Verhältnis. „Er hat sich über mehr Sachen geärgert als gefreut“, sagt sie. Jemand hat ihren Opa mal die Seele des Hauses genannt, und so war es wohl. Der Mittelpunkt der Familie. Marie sieht ihn noch vor sich, wie er in seinem angestammten Sessel in der Stube sitzt, sich freute, wenn sie kam und sie fest umarmte, wenn sie sich zu ihm herunterbeugte. Sie war immer erstaunt, wie viel Kraft er dann noch hatte, obwohl er doch sonst so wackelig war. Fast hat er sie nicht mehr losgelassen. „Mein Mädchen“, sagte er dann immer zu ihr. „Es war sehr liebevoll“, sagt Marie, „aber ich glaube, bei all den Enkelkindern wollte er so auch vermeiden, einen falschen Namen zu sagen.“
Noch heute trifft sich die Familie an seinem Geburtstag im Juni. Gemeinsam besuchen sie sein Grab. Und seinen 90. haben sie alle zusammen im Gasthof gefeiert.

Text: Amet Bick, Foto: pixabay.com