Sterben ist Leben

Der Initiator des Hospizes Köpenick, Professor Dr. Stefan Kahl, über Angst vor dem Tod, würdevolles Sterben und seine eigenen Kraftquellen.

Herr Professor Dr. Kahl, wie kommt man auf die Idee, ein Hospiz zu gründen?

Das war nicht nur eine Idee, eher die logische Konsequenz aus dem, was ich tagtäglich erlebe: Patienten in einer unbeschreiblich tragischen Situation. Die Erkrankung zwingt sie im Krankenhaus zu sein, aber nur deshalb, weil die Versorgung zu Hause nicht gewährleistet ist. Zwar geht schon sehr viel mit spezialisierter ambulanter palliativmedizinischer und -pflegerischer Versorgung, mit engagierten Palliativpflegediensten und Palliativmedi-zinern, aber auch Hausärzten, die sich diesem Thema angenähert haben. Aber es gelingt eben nicht alles, immer wieder gibt es Patienten, die mehr brauchen, als die täglich zu festgelegten Zeiten erfolgenden Besuche der Palliativpflegekraft.
Und für einige von ihnen ist dann ein Hospiz Heimat, Wohnung, Zuhause. Leider gibt es noch immer – auch mit dem Hospiz in Köpenick – zu wenige Plätze in Berlin. Das bedeutet Wartezeiten im Krankenhaus – oder noch schlimmer: grenzwertige Situationen zu Hause. Und da sind – glauben Sie mir – die Bedingungen für viele Patienten nicht annährend so gut, wie im Hospiz. Und weil ich das wirklich täglich erlebe, lag es nahe, zumindest zu versuchen, die Bedingungen zu verbessern.

 

Sie haben den Hospiz-Förderverein beneficio e.V. gegründet. Beschreiben Sie bitte dessen Arbeit?

Unser Förderverein beneficio e.V. soll die Arbeit unseres Hospizes unterstützen. Durch Öffentlichkeitsarbeit – wir wollen die Menschen informieren und begeistern für das schwierige Thema. Noch ist das alles sehr rudimentär, weil wir noch im deutschen Behördendschungel stecken. Wir waren irgendwie nicht so ganz optimal beraten, als wir unsere Satzung vorbereitet haben, jedenfalls haben wir schon mehrere Runden beim Vereinsgericht und beim Finanzamt für Körperschaften „gedreht“, um hoffentlich mit der letzten Satzungsänderung einen gemeinnützigen Verein, mit allen Möglichkeiten der Steuervergünstigung für Spender, zu haben. Es gibt noch nicht viele konkrete Projekte, aber ein wichtiges ist die Idee vom Kochbuch. Wir wollen Lieblingsrezepte von Bewohnern unseres Hospizes sammeln, sie aufschreiben, die Geschichte dazu skizzieren und zu einem Sammelband zusammenstellen. Der kann dann vieles sein: Erinnerung an unsere Bewohner oder auch Aufforderung, das Leben zu bejahen, weil es schön ist – und gut schmeckt. Unsere Konzerte mit den musici medici werden wir ebenso weiterführen, wie wir weitere Ideen entwickeln wollen, um unser Vereinsziel, die Unterstützung des Hospizes in Köpenick, zu erreichen.


Was bedeutet würdiges Sterben für Sie?

Sterben ist erst einmal Leben. Zugegeben, es ist eine Phase am Ende des Lebens, aber Sterben ist Leben. Und: Das Leben ist schön, sollte es jedenfalls sein – bis zum Schluss!
Und die Würde des Menschen ist unantastbar. Wir müssen dafür sorgen, dass den uns Anvertrauten diese Unantastbarkeit bleibt. Zu Ende gedacht bedeutet das, dass wir uns bedingungslos auf den Sterbenden einlassen.

 

Worin bestehen die Unterschiede zwischen ambulanter und stationärer Palliativversorgung?

In der Palliativversorgung geht sehr viel ambulant, was aber immer auch von der speziellen Situation des Patienten abhängt: häusliche Umgebung, Möglichkeiten der Angehörigen, Wünsche des Patienten. Manchmal geht es ambulant eben nicht weiter – und dann steht die Frage nach einem Hospiz. Das ist viel öfter der Fall, als wir denken – die Wartelisten in den Hospizen sind zum Teil sehr lang. Die Kostenträger und die Träger der Hospiz-versorgung haben dazu eine Vereinbarung geschlossen, die die bürokratischen Dinge regelt – und auch einen eher bürokratischen Namen hat. Aber: Ob eine Aufnahme in unser Hospiz möglich ist und von der Krankenkasse bezahlt wird – das zu klären, dabei helfen wir.

 

Können Sie uns kurz etwas zu den Formalia sagen – Aufnahme, Kostenübernahme und Versorgung im Hospiz?

Für die Aufnahme in einem Hospiz, also auch in unserem, müssen bestimmte Bedingungen gegeben sein: Ein Arzt muss bescheinigen, daß bei einem Patienten eine unheilbare, voranschreitende Erkrankung mit einer begrenzten Lebenserwartung vorliegt. Dieser Einschätzung muß ein von der zuständigen Krankenkasse beauftragtes Beratungsunternehmen (der Medizinische Dienst der Krankenkassen, MDK) folgen. Außerdem muss die ambulante palliativmedizinische und -pflegerische Versorgung in der Wohnung des Patienten nicht ausreichen. Wenn die erwähnte ärztliche Bescheinigung vorliegt, kann ein Aufnahmeantrag für unser Hospiz ausgefüllt werden. Wir unterstützen dann die Antragstellung und begleiten den Kranken und seine Angehörigen in diesem Prozess.

 

Im Mittelpunkt der Hospizarbeit stehen der sterbende Mensch und seine Angehörigen. Was bedeutet das konkret?

Es ist schwierig, das allgemein zusammenzufassen, weil es in jedem Fall sehr individuell unterschiedlich sein wird. Aber am Ende bedeutet es immer menschliche Zuwendung, Erhalt der Bindungen, professionelle Pflege und ärztliche Begleitung. Das kann auch bedeuten, mal von einer Routine oder einem Standard abzuweichen, wenn es in der konkreten Situation notwendig und gut ist.

 

Wie wird im Hospiz beziehungsorientiertes Leben bis zuletzt ermöglicht?

Das ist doch eine der, wenn nicht die wichtigste Aufgabe: Bedingungen zu schaffen, in denen beziehungsorientiertes Leben bis zuletzt möglich wird. Jedes Detail unserer Arbeit im Hospiz wird darauf gerichtet sein, dem Gast das zu ermöglichen, was ihm das Leben erleichtert, bestehende Beziehungen zu erhalten und zu stärken, oder auch neue aufzubauen. Wenn ich das so sage, klingt das wie Schlaraffenland – „… du hast einen Wunsch frei …“ – das ist es aber nicht, es ist einfach notwendige Individualität.

 

Worin liegt Ihrer Meinung nach die Herausforderung für das Hospiz-Team im Umgang mit Sterbenden und deren Angehörigen?

Ich habe einmal gelesen, dass eine Hospizmitarbeiterin darüber sprach, dass sie jeden Tag das Gefühl hat, der Tod geht neben ihr. Es ist eine große Herausforderung zu akzeptieren, dass wir nichts tun können, den Tod zu verhindern. Wir müssen akzeptieren, dass wir Begleiter auf dem letzten Teilstück des Lebens sind, dem Sterben.

 

Wie können Sie Angehörige von Schwerstkranken vor Ort unterstützen, welche Entlastungsmomente bietet das Hospiz?

Es gibt eine Vielzahl etablierter und standardisierter Angebote, um die Sterbenden und deren Angehörige zu unterstützen. Uns ist etwas anderes darüber hinaus sehr wichtig: die persönliche Zuwendung, das Gespräch, das verbale Gesprächsangebot.
Wir wollen diese Angebote aus vielen Richtungen anbieten. Und zwar so, dass wirklich jeder, der das Bedürfnis hat, einen passenden ärztlichen, pflegerischen oder ehrenamtlichen Gesprächspartner finden kann. Aber auch den Mitarbeiter des Sozialdienstes, Seelsorger verschiedener Kirchen und Psychologen werden das Gespräch anbieten.
Aus diesen Gesprächen werden sich konkrete Hilfsangebote ableiten lassen. Und da sind wir dann wieder am Anfang – dann suchen wir individuelle Lösungen, um sie zu realisieren.

 

Was passiert, nachdem der Hospizgast verstorben ist, gibt es beispielsweise Rituale?

Es gibt Überlegungen für ein Ritual nach dem Tod eines Gastes, aber die sind noch nicht abgeschlossen. Ich finde es einerseits gut, ein solches Ritual einzuführen, begrüße aber andererseits, dass diejenigen, die im Hospiz arbeiten werden, sich jetzt mit diesem Thema beschäftigen.

 

Viele Menschen sagen, sie hätten keine Angst vor dem Tod. Allerdings vor dem Sterben. Wieso?

Wenn der Tod eingetreten ist, dann markiert er den Zeitpunkt nach er Beendigung unseres Lebens. Das Sterben ist der letzte Zeitabschnitt unseres Lebens. Mal länger mal kürzer, mal beschwerlicher oder leichter kann dieser Übergang verlaufen. Wir haben insbesondere Angst, unsere Autonomie zu verlieren, unsere Beziehungen zu lösen. Wir haben Angst vor Schmerzen, Übelkeit, Bewußtseinsstörungen, vor unkontrollierbaren Körperfunktionen. Bei der Bewältigung all dieser Ängste müssen und wollen wir im Hospiz helfen.

 

Immer wieder gibt es Debatten um Sterbehilfe. Woraus resultieren die Ihrer Meinung nach?

Aus genau dieser Angst. Vor einem unerträglichen Sterben, vor Schmerzen und Verlusten. Manchmal ist es aber auch der Wunsch, niemandem zur Last zu fallen.

 

Wird Sterben in Deutschland noch zu sehr tabuisiert oder erkennt eine alternde Gesellschaft, dass auch über das Lebensende intensiv nachzudenken ist?

Es wird heute viel mehr über das Sterben und den Tod gesprochen, als noch vor 20 Jahren. Als ich meine Berufslaufbahn begann, gab es erste zarte Bemühungen sich dem Thema offensiv zu nähern, vor allem in konfessionellen Krankenhäusern. Heute sind Sterben und Tod oft Gesprächsthemen wie jedes andere auch. Es ist seltener geworden, dass das Sterben derart tabuisiert wird, weil jemand Angst hat oder weil es ihn zu sehr berührt. Es gibt Internetforen und solche Gespräche, wie wir sie führen. Ich habe schon den Eindruck, Sterben und Tod sind als Thema in der Gesellschaft angekommen. Heute droht eine ganz andere Gefahr: Unsere sozialen Strukturen ändern sich. Waren früher die Familienverbände da, um das Sterben zu begleiten, fehlen diese heute häufig. Jetzt müssen wir als Gesellschaft Strukturen etablieren, um hier Ausgleich zu schaffen. Unser Hospiz ist so eine Struktur.

 

Woher holen Sie sich die Kraft für ihre Arbeit?

Ich schöpfe Kraft bei meiner Familie, meinen Freunden, ich schöpfe Kraft auch durch Gespräche mit meinen Patienten und Kollegen, in meiner Gemeinde. Und manchmal ruhe ich mich einfach mit einem Buch, Musik und Hängematte im Garten aus.

Foto: Uwe Baumann