Die eine Liebe

Solveig hat ihren Mann beim Sterben begleitet.

Mit Bauchdrücken fing alles an. Achim, Solveigs zweiter Mann, wollte eine gefühlte Ewigkeit nicht zum Arzt. Allerdings wurden die Schmerzen immer heftiger, irgendwann, nach kurzer ärztlicher Behandlung, wurde die Ahnung zur Gewissheit. Die Hiobsbotschaft: Krebs. Und keine Heilungschance mehr. Jedenfalls keine reguläre, greifbare. Allenfalls Strohhalme, aber wer mag denen schon trauen. Obwohl Menschen in Not immer wieder nach ihnen greifen. Das nennt man Hoffnung. Die kann Berge versetzen. Und bekanntlich stirbt sie zuletzt.

Solveig und Achim haben sich im Büro kennengelernt, eine typische wir-haben-uns-auf-Arbeit-ineinander-verliebt-Geschichte. Beide kamen aus anderen Partnerschaften, der zweite Anlauf fiel ihnen nicht so leicht. Solveig, die lustige Alleskönnerin und Achim, der „Amtsschimmel“, wie ihn seine spätere Frau immer nannte. Weil Achim über alles tagelang nachdachte. Selbst der Kauf einer Kaffeemaschine wurde generalstabsmäßig organisiert. Vorher wurden Prospekte gesammelt, Testzeitschriften gekauft. Trotz der anscheinend zwei unterschiedlichen Lebensgeschwindigkeiten passten Solveig und Achim „wie der Deckel zum Topf“, so die Arbeitskollegen. Die beiden freuten sich über die zweite Liebe, irgendwann wurde „in ganz großem Stil“ geheiratet.

Das ist jetzt sieben Jahre her, sieben wunderbare Jahre. Der „Amtschimmel“ und die Alleskönnerin haben halb Europa bereist, neue Freundschaften geknüpft und keiner von beiden hätte im Traum daran gedacht, dass in Achim der Krebs bereits sein unheilvolles Wachstum begann. Es gab – im Nachhinein betrachtet – zumindest ein deutliches Warnzeichen. Als Achim auf einmal Gewicht verlor. Irgendwann stabilisierte sich das und ein paar Kilo weniger auf den Rippen waren eben nicht zu verachten.

Solveig geht zur Anbauwand, holt ein Fotobuch aus dem Schrank. Sie denkt viel lieber an die glücklichen Tage zurück. An die Urlaube in Italien, Griechenland und Norwegen. Dort hat es beiden am besten gefallen, weil vom Massentourismus wenig zu spüren war. „Menschenleere Gegenden, atemberaubende Natur und wilde Wasser – es war einfach herrlich“, begeistert sich Solveig noch immer.

Dann verging ihnen das Reisen. Achim kam ins Krankenhaus, Operation, Intensivstation, nach einer kurzen Erholungsphase Reha und Chemo. „Wenn sie dir sagen, dass mit all den Maßnahmen noch ein gutes halbes Jahr Lebenszeit drin ist, dann wird das durchgezogen“. Zumindest bezeichnete Achim das so. „Wir ziehen das durch“, hat er immer gesagt und dabei getan, als würde er für Napoleon kämpfen. Am Ende wurde ein Jahr daraus. Ein Jahr, zwei Wochen und drei Tage, um ganz genau zu sein. Achim starb wie ein Kind – hilflos und doch irgendwie friedlich.

Nachdem sein Herz aufhörte zu schlagen, sah er aus wie auf den wenigen zerknitterten Jugendfotos, die die Zeit überstanden haben. „Dieses Bild werde ich nie vergessen“. Solveig klappt das Fotobuch zu, nimmt die Brille ab und wischt die Tränen weg. „Ich habe lange Zeit nicht arbeiten können, nicht richtig jedenfalls, denn trotz aller Trauer musste Geld in die Kasse.“ Nach Hause zu kommen, war eine Qual, erinnert sich Solveig. Unmittelbar nach Achims Tod kam ihr die Wohnung fremd und kalt vor, gelegentlich ist das heute noch so. „Die Stille kann einem zum Freund werden, die Einsamkeit jedoch nicht“, sagt Solveig und schlägt das Fotobuch erneut auf. „Nachts ließ ich den Fernseher laufen, nur um irgendwie das Gefühl zu haben, nicht allein zu sein. Auch am Wochenende. Ich habe mich über den Stuss geärgert, der da lief, hatte aber auch keinen alternativen Plan.“

Jetzt, zwei Jahre später, kann sie wieder lachen. „Noch nicht so wie früher, aber immerhin, es geht langsam bergauf.“

Eine neue Partnerschaft ist nicht in Sicht. „Will ich auch nicht, Achim war die eine Liebe, die für unser und jetzt mein Leben reicht.“ Und dann fügte sie an: „Ich habe noch den lockeren Spruch aus der Trauzeremonie in Erinnerung, dass Liebe halten soll, bis der Tod sie scheidet. Ich denke, dass unsere Liebe nicht einmal durch seinen Tod geschieden werden kann.“ Einen Wunsch hat Solveig noch: „Ich würde Achim gerne wiedersehen, egal in welcher Welt.“

Text: Gabriel Burisch, Foto: pixabay.com