Am Ende rast die Zeit

Im Fotoalbum sitzt Familie Naumann gemeinsam auf einer Bank. Immer noch.

Die Wohnung ist ihr viel zu groß geworden, seit alle Kinder aus dem Haus sind und nun auch noch ihr Mann verstorben ist. Jutta Naumann schnitzt an einem Apfel herum, so wie früher, als ihre Tochter und die beiden Söhne noch klein waren. Sie schaut dabei ins Leere und sagt immer wieder: „Na ja, ich will nicht jammern, es waren schöne Zeiten.“ Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geboren, erlebte sie Hunger und Not, „und das hat uns Kinder damals hart gemacht.“ Sie sagt das so, als seien Hunger und Not Naturgesetze, die auch heute noch alles Leben in einen Kampf ums Dasein wandeln. „Wir hatten aber auch Zeiten, in denen wir gelacht und uns ein wenig in die Nachbarjungs verliebt haben.“ Ihr Vater war Postzusteller und begeisterter Radrennfahrer. Dass sich seine Tochter damals den Umständen entsprechen hübsch machte, sah er nicht gern. Kurz vor Ende des Krieges, als marodierende Einheiten über die Dörfer zogen, wäre er fast erschossen worden. Weil er weiße Fahnen hissen wollte, als die Amerikaner anfingen, Thüringen zu befreien. Eines der sogenannten fliegenden Standgerichte bekam Wind davon. „Das Leben hing damals sowieso immer am seidenen Faden“, sagt Jutta, „aber mein Vater wurde nur gerettet, weil meine Mutter eine Stunde lang auf Knien um sein Leben flehte.“

 

Nach dem Krieg

Amerikanische Truppen befreiten Thüringen innerhalb von gut zwei Wochen, am schwersten traf es dabei die Stadt Nordhausen, die durch Angriffe aus der Luft völlig zerstört wurde und bei denen 9.000 Menschen ums Leben kamen. „Sowas hat sich damals schnell herumgesprochen, wir hatten alle Angst. Besonders wir jungen Mädchen hörten die alptraumhaften Geschichten von Entführungen und Vergewaltigungen“ sagt Jutta Naumann und beißt in ein Apfelstück. „Aber genug davon, dass ist lange her“ – sie holt ein Fotoalbum aus dem Schrank. Als sie es herauszieht, fällt der fein säuberlich darübergestapelte Papierkram in sich zusammen. „Das blöde Papier, was die heutzutage alles wissen wollen, ich blicke da nicht mehr durch.“ Friedhofs- und Gartenpachtrechnungen liegen jetzt durcheinander, „aber die werden schon nicht arm werden, wenn ich ein paar Tage später zahle.“
Wie das ist, wenn sie sich nun um alles allein kümmern muss, möchte ich wissen. „Beschissen, ganz ehrlich. Die Krankheiten schreiten fort, den Notarzt kenne ich mit Vornamen und ebenso die Namen der Stationsärzte im Krankenhaus, falls die nicht immer wechseln.“ Seit ihr Mann an Darmkrebs starb, hat sie „den Papierkrieg“ übernommen. Zwangsläufig, denn die Kinder hat es „zeitig aus dem Haus geweht“, wie sie es nennt. „Meine Tochter hat eine Ausbildung begonnen und zeitig geheiratet, danach kam gleich ein Kind.“ Und die Söhne? „Mein älterer Sohn ist geistig behindert, arbeitet und lebt schon lange in einem Stiftsheim, der jüngere Sohn ist nach dem Studium von Thüringen nach Berlin gezogen und lebt dort mit seiner Familie.“ Man sehe sich, aber im Alltag sei sie eben doch allein.

 

Jutta und ihr Mann

„Meinem Mann habe ich viel zu verdanken, außerdem hat er sich früher um alles gekümmert“, trauert Jutta den vergangenen Zeiten nach. Sie geht in die Küche, auf einen Rollator gestützt, der an jeder Teppichkante hängenbleibt. „Blöd ist das, nicht mehr richtig laufen zu können“, meint sie eher belustigt als ernsthaft. Gelegentlich käme eine Haushaltshilfe, sagt sie, aber „die jungen Dinger“ hätten ja keine Ahnung, wie gründlich geputzt wird. „Die Ecken umgehen sie elegant und ich muss dann immer noch nacharbeiten.“
Sie greift zum Fotoalbum und blättert darin herum, dabei lächelt sie fast mädchenhaft. „Hier ist die Jutta in jungen Jahren mit Sohn und Tochter und den Schwiegern“. Damit meint sie ihre Schwiegereltern, die ihr am Anfang der Beziehung zu ihrem späteren Mann immer mit Misstrauen begegnet seien. „Die Mutter meines Mannes hat heimlich meine Schränke geöffnet, um Hemden, Bettzeug und Unterwäsche zu inspizieren“, erinnert sie sich und spricht mit gesenkter Stimme und gespitztem Mund. „Nach einer Weile ließ das nach, aber hin und wieder gab es deshalb Streit, fast schon Riesentheater.“ Plötzlich muss Jutta lachen: „Hier, schau dir doch mal den Kinderwagen an. Wie ein tiefer gelegtes Rennauto. Und die Klamotten! Das kommt alles irgendwann wieder in Mode, das schwöre ich.“ Sie streicht über die Fotografien, als könne sie dadurch zu den abgebildeten Szenen zurückkehren.

 

Der Neugeborene Robert war schwer erkrankt

Wie das mit ihrem Mann war, möchte ich wissen. Sie legt das Album zur Seite und blickt aus dem Fenster, in der Küche röchelt die Kaffeemaschine eine seltsame Melodie. „Wir waren über 50 Jahre verheiratet, es gab Höhen und Tiefen. Auch mein Mann hat den Krieg als Kind erlebt, den Bombenangriff auf Magdeburg, seine geliebte Heimat.“ Als ihr erster Sohn geboren wurde, stellte sich heraus, dass er an einer durch Bakterien ausgelösten Hirnhautentzündung erkrankt war. Robert, „ein aufgewecktes Bürschchen“, kam ins Krankenhaus, aber es war zu spät. Die Krankheit hatte bereits zu bleibenden neurologischen Schäden geführt. „Aber wir sind dennoch dankbar, dass Roberts Leben erhalten blieb, denn hinterher haben wir erfahren, dass seine Form der Infektion damals fast immer tödlich endete.“ Anfangs haderte Juttas Mann mit dem Schicksal, „die Medizin war eben nicht so modern wie heute und wir haben uns natürlich ein gesundes Kind gewünscht.“ Letzlich habe man sich aber gefügt und Robert so gut wie möglich gefördert. Aber viele graue Haare sind beiden Eheleuten in dieser Zeit gewachsen, zumal sich viele Freunde fortan nicht mehr blicken ließen. Durch das behinderte Kind war an eine normale Freizeitgestaltung oder Urlaubsplanung nicht zu denken. „Das war aber nicht schlimm. Schlimmer waren die Bemerkungen und anmaßenden Blicke von Vorübergehenden auf der Straße“, sagt Jutta nachdenklich. Ob er (damit war Robert gemeint) jetzt für immer dumm bleibe, fragten Nachbarn und Arbeitskollegen. Das habe sie weitgehend ignoriert, beteuert Jutta, aber ihren Mann „hat das Jahre seines Lebens gekostet“. Der erkrankte mit 73 Jahren an Darmkrebs, eineinhalb Jahre nach der Diagnose verstarb er im Krankenhaus.

 

Die Familie rückt zusammen

„Wir haben anfangs nicht über die Erkrankung gesprochen“, erinnert sich Jutta, „das nehme ich mir heute übel“. Sie trinkt einen Schluck pechschwarzen Kaffee, wischt sich über ihre Augen. „Eigentlich haben wir alles verdrängt, mein Mann sprach immer nur von Geschwüren, dass er wieder auf die Beine kommt und so. Kam er aber nicht.“ Im Krankenhaus habe man zu ihr offen gesprochen: Der Krebs hätte viele Organe befallen, man wolle wenigstens versuchen, die Schmerzen in den Griff zu bekommen.
Die Familie rückte in dieser Zeit zusammen, das habe ihr Kraft verliehen. Und die Tatsache, dass ihr Mann nicht leiden musste. Zumindest keine körperlichen Schmerzen. „Es war jedoch schlimm für mich und die Kinder, meinen Mann beim Sterben zuzusehen. Der körperliche Verfall hatte eine Schnelligkeit, die ich nicht für möglich gehalten habe“, sagt Jutta betroffen und zeigt mir noch ein Foto, auf dem ihr Mann mit deutlichem Übergewicht in die Kamera lächelte. „Innerhalb von zwei Monaten nach der Krebsdiagnose und der nachfolgenden Darm-OP hatte er die Figur eines Jungen, ich war erschüttert.“ Sie hat sich das jedoch nicht anmerken lassen. „Nur in der Nacht habe ich geheult und hatte keinen Plan, wie ich ohne ihn leben sollte. Noch dazu im fortgeschrittenen Alter.“ Ihr Mann starb in der Nacht. Als das Telefon klingelte und sie die vertraute Stimme des Stationsarztes vernahm, war ihr alles klar.

 

Das Leben war bunt

Am Tag zuvor haben sie sich noch gesehen, der Sohn aus Berlin hingegen kam zu spät. Das beschäftigt sie heute noch, denn die Beziehungen zwischen Vater und allen drei Kindern waren innig. Viele Jahre sind seither vergangen, anfangs habe sie immer mit ihrem verstorbenen Mann gesprochen, „die Macht der Gewohnheit“, amüsiert sie sich. „Was sollte ich machen, irgendwie musste es ja weitergehen. Und wenn einer stirbt, mit dem man so lange zusammen gelebt hat, fühlt man sich wie amputiert.“ Dennoch habe sie den Tod ihres Mannes als Erlösung empfunden, stellt Jutta fest. „Außerdem gibt der Tod eine Entscheidung vor. Keine einfache, aber eine Entscheidung. Wir haben uns zu fügen, ob wir wollen oder nicht.“
Wir blätterten einen halben Tag durch das Familienalbum, zu beinahe jedem Bild erzählte Jutta eine Geschichte. Banales Zeug und einschneidende Ereignisse vermischten sich zu einem Rückblick schwarzweißer Lebensstationen. „Aber das Leben war nicht schwarzweiß wie die Fotos, musst du wissen. Es war bunt. Und es war schön.“ Zum Abschied gab sie mir noch Kuchen und einen Rat mit auf den Weg: „Lebe jeden Tag! Denn am Ende rast für den einen die Zeit wie ein ICE. Für den anderen steht sie fast still. Das ist dann nicht mehr der gleiche Zug.“

Ein knappes Jahr nach diesem Treffen verstarb Jutta Naumann in einem Pflegeheim. Im Fotoalbum sitzt die Familie auf einer Bank. Immer noch.

Text: Uwe Baumann, Foto: mit freundlicher Genehmigung von Jutta Naumann und der Familie Naumann